Schadenslokalisation und Zustandsidentifikation auf Basis unscharfer Beobachtungen mit H∞-Schätz- und Subspace-Methoden im Lebenszyklus instationärer, mechanischer Strukturen unter ambienter Anregung
Motivation
Der Lebenszyklus von technischen Strukturen - Infrastrukturen, Bauwerke, Anlagen - umfasst die Planung (Design) als auch Nutzung, Wartung, Unterhaltung (Maintenance) bis hin zur Umplanung oder Anschlussverwertung (Recycling). Dabei ist der größte zeitliche aber durchaus auch kostenintensive Anteil die Maintenance-Phase, die im Fokus dieses Vorhaben steht.
In der Design-Phase technischer Strukturen gilt die Methode der Finiten Elemente (FEM) als ein anerkanntes ingenieurorientiertes Planungs- und Modellierungs-Instrument. Prinzipienbedingt kommen hier sehr komplexe Berechnungsmodelle zum Einsatz, um möglichst genaue Ergebnisse zu ermöglichen.
In der Maintenance-Phase technischer Strukturen können durch Beobachtungen und Messungen an den technischen Konstruktionen neue Informationen während der Nutzung erfasst werden, die eine Modellvalidierung ermöglichen. Darauf aufbauend kann eine zukunftsorientiert Ressourcen und Kapital schonende modellorientierte planbare Nutzung, Wartung und Unterhaltung erfolgen.
Hierbei eignet sich die hohe Modellkomplexität und Parametervielfallt der FEM leider nicht direkt, um eine erforderliche, eindeutige, widerspruchsfreie und ggf. echtzeitfähige Modellanpassung, an die neuen gemessenen Informationen über den technischen Zustand einzuarbeiten.
Sehr vorteilhaft zur Modellbildung mechanischer Strukturen in der Maintenance-Phase können fehlertolerante Parameterschätzer mit adaptierbaren Parametern auf der Basis von unscharfen Beobachtungen zur Schadenslokalisation und Zustandsidentifikation eingesetzt werden. Hervorzuheben ist, dass die in diesem Forschungsvorhaben angewendete multisensorielle prozessorientierte Modellbildung ohne Kenntnis einer ambienten Anregung der mechanischen Struktur, nur durch Messungen der Strukturantwort erfolgen kann. Eingesetzt werden hier insbesondere die H∞ Schätzer im Krein-Raum, die in der Strukturdynamik, Schadenslokalisation und Zustandsidentifikation unbekannt sind und ursprünglich in der mathematisch orientierten robusten Kontrolltheorie - im Rahmen moderner Methoden der linearen Algebra und Optimierung - entwickelt wurden.
Mit diesem Forschungsvorhaben sollen nachweislich in Laborversuchen sehr erfolgreiche neue Ansätze der prozessorientierten Modellbildung (‚State Projection Estimation Error‘ - SP2E) zur Schadens- und Systemidentifikation einer mechanischen Struktur - angelehnt an die H∞-Schätz- und Kontrolltheorie und Projektionen im Zustandsraum - während der Nutzungsphase und unter Berücksichtigung von Störgrößen (Umgebungs- und Betriebsbedingungen, etc.) weiterentwickelt werden. Die hier durch den Antragsteller erarbeiteten theoretischen Methoden und gewonnenen instationären Modelle, sollen schließlich auch unter realen Betriebsbedingungen experimentell an exponierten Bauwerken - z.B. Brücken und Windenergieanlagen - verifiziert werden, um reale Schadenslokalisation und Zustandsidentifikation sowie Sicherheits und Lebensdaueranalysen zu ermöglichen.
Blick von der Karl-Liebknecht-Straße auf den Nieper-Bau der HTWK-Leipzig mit dem Versuchsfeld auf dem Dach.
Ziele des Forschungsvorhabens
Mit Hilfe der Krein-Raum basierten H∞-Schätztheorie wurde in vorausgegangen Studien eine neue Vorgehensweise zur Schadenslokalisation und Zustandsidentifikation mit dem Namen State Projection Estimation Error (SP2E) entwickelt. Krein-Raum basierte Schätzer sind in der Strukturdynamik, Schadenslokalisation und Zustandsidentifikation nicht bekannt. In der Methode SP2E werden keine Bilanzgleichungen, Materialgesetze, kinematische Formulierungen oder chemische Prozessmodelle angewendet, sondern es wird ein inverses Problem (systemtheoretische Black-Box) gelöst. Basis ist die Zerlegung einer mehrdimensionalen Popov-Funktion in Verbindung mit einem gekoppelten Zustandsraummodell als Prozessmodell. Über die algebraische Methode der schiefen Projektionen kann darauf aufbauend im Zustandsraum ein eindeutiger Parameter als Schadens-Indikator und -Lokalisator theoretisch abgeleitet werden.
Die Methode arbeitet prinzipiell (hart) echtzeitfähig.
Ingenieurorientiert wird eine Prozess-Schätzfehlerleistung als Indikator und Bewertungsmaß für die Schadenslokalisation gewählt. Die SP2E-Methode wurde prototypisch mehrfach in Laborversuchen an einem realen mechanischen System unter ambienter Erregung mit sehr guten Ergebnissen erprobt. Vor diesem sehr positiven Hintergrund, soll die neue Methodik SP2E in Theorie und Anwendung weiterentwickelt und untersucht werden.
Die eingesetzten H∞-Schätzer ermöglichen die theoretische Behandlung sowohl deterministischer als auch stochastischer Strukturerregungen. Sehr vorteilhaft bei der System- und Schadensidentifikation großer mechanischer Strukturen ist die ambiente Anregung. Methodisch ist hervorzuheben, dass die eingesetzte multisensorielle, prozessorientierte Modellbildung ohne Kenntnis einer Anregung der mechanischen Struktur, nur durch Messungen der Strukturantwort erfolgen kann.
In dem geplanten Projekt wird die H∞-Theorie in die Schadenslokalisation und Zustandsidentifikation eingeführt und validiert. Hier werden u.a. Ansätze zur Anwendung gemischter H-2/H∞-Schätzverfahren, sowie Square-Root Verfahren untersucht. Dabei sind große Entwicklungen zu erwarten, da diese in der Schadenslokalisation und Zustandsidentifikation neu sind.
Ein zentraler Bestandteil des Projekts ist die theoretische Weiterentwicklung der Methode SP2E sowie die experimentelle Verifikation dieser. Hierbei wird die Güte der Schadenslokalisation unter Störeinflüssen und Umgebungs- und Betriebsbedingungen validiert. Es wird mit Laborversuchen begonnen. Darauf aufbauend werden Langzeitversuche auf einer Freiflächenversuchsanlage durchgeführt. Hier ist der Einfluss der kontinuierlich verändernden Umgebungsbedingungen (z.B. Wechsel der Anregung (Wind), Temperatur) auf das numerisch identifizierte Strukturverhalten zur Schadenslokalisation zu berücksichtigen. Weiterhin werden, in Vorbereitung auf industrielle Anwendungen, Pilotstudien an komplexe Strukturen (z.B. Brücken, Windenergieanlagen) durchgeführt.
Modulare Versuchstruktur unter realen Umweltbedingungen.
Übersicht der gemessenen Windgeschwindigkeiten in den Jahren 2016 - 2019 auf dem Dach des Nieper-Bau.
Autoleistungsspektrum der Versuchstruktur auf dem Dach des Nieper-Bau (Schätzung nach Welch).
Gemessen wurden Beschleunigungen in Richtung der schwachen Achse an der Kragarmspitze. Die Anregung erfolgte ambient.
Modulare Versuchsstruktur unter Laborbedingungen.
Veröffentlichungen
Konferenzbeiträge und wissenschaftliche Vorträge
- An in situ experimental setup for damage localization and mechanical parameter estimation; M. Vollmering, I. Dolbonosov, A. Lenzen; Eurodyn 2020 - XI International Conference on Structural Dynamics, 2020.
- Normierung der Output-Only-Methode zur Identifikation mechanischer Systeme; A. Lenzen; Baustatik - Baupraxis 14 Universität Stuttgart, 2020.
- Schädigungserkennung in mechanischen Strukturen mithilfe der Stochastic Subspace Identification und der Kreinraum-basierten H∞-Schätztheorie; M. Vollmering, A. Lenzen; D-A-CH Mitteilungsblatt 2019-2, ISSN 1434--6591; Bauingenieur BD. 94 (2019) Nr. 10; 2019.
- A New Technique for Damage Localisation using Estimates in Krein Spaces; A. Lenzen; M. Vollmering; Proceedings of the 6th International Operational Modal Analysis Conference (IOMAC); 2015; Gijón.
- Eine neue Methodik zur schwingungsbasierten Schadensidentifikation; A. Lenzen, M. Vollmering; 5. VDI-Fachtagung Baudynamik; 2015.
- Vergleich verschiedener Ansätze zur Identifikation instationärer Eigenfrequenzen; A. Lenzen, M. Vollmering; 4. VDI Fachtagung Schwingungsanalyse & Identifikation; 2016.
- Experimentelle Schadenslokalisation auf Basis der H∞-Schätztheorie und State Projection Estimation Error; M. Vollmering, A. Lenzen; 6. VDI Fachtagung Baudynamik, 2018.
- Application of H∞ estimation and oblique projections for experimental damage identification by SP2E; M. Vollmering, A. Lenzen; Leuven Conference on Noise and Vibration Engineering (ISMA), 2018.
Articles mit Peer Review
- Damage localization of mechanical structures considering environmental and operational conditions based on output-only system identification and H∞-estimation; A. Lenzen, M. Rohrer, M. Vollmering; Mechanical Systems and Signal Processing 156 (2021), 107572, 2021.
- Mechanical system scaling based on output only identification and mass perturbations by state projections; A. Lenzen, M. Vollmering, Mechanical Systems and Signal Processing 144 (2020) special issue in honor of Professor Lothar Gaul: 106863, 2020.
- An output‐only damage identification method based on H∞ theory and state projection estimation error (SP2E); A. Lenzen, M. Vollmering; Structural Control and Health Monitoring, 24(11), 2017.
- On experimental damage localization by SP2E: Application of H∞ estimation and oblique projections; A. Lenzen, M. Vollmering; Mechanical Systems and Signal Processing, 104:648-662, 2018.
- Theory and numerical application of SP2E: A damage localization method; M. Vollmering, A. Lenzen; Structural Control and Health Monitoring, 2018.
Promotionen
- Damage Localization of Mechanical Structures by Subspace Identification and Krein Space Based H-infinity Estimation; Max Vollmering; Promotion; 27.07.2018